von Karl-Heinz Peil
Der Beitrag erschien im Friedensjournal Nr. 3/2021, online als PDF abrufbar unter:
http://www.frieden-und-zukunft.de/pdf/fj/FJ_2021-3_Web.pdf

NATO-Russland-Grundakte und US-Militärpräsenz

Immer noch gültig ist der Vertrag zwischen der NATO und Russland von 1997, der eine vertrauensvolle Zusammenarbeit als Grundprinzip festschreibt. Die darin formulierte Beschränkung der NATO bezüglich Osteuropa, dass dort keine „zusätzlich substanzielle Kampftruppen dauerhaft stationiert“ werden, gilt noch heute. Allerdings mit einer trickreichen Auslegung seitens der NATO, die nach der Ukraine-Krise 2014 eingeführt wurde. Tausende von US-Soldaten sind quasi permanent an der russischen Westgrenze bzw. dessen geographische Nähe stationiert, auch wenn diese im Zyklus von sechs bis neun Monaten per Rotationsprinzip ausgetauscht werden. Dazu wurde auch die Infrastruktur für das US-Militär in den östlichen NATO-Staaten systematisch ausgebaut. Damit sind diese ebenso wie die NATO-Beitrittskandidaten Ukraine und Georgien an der Südgrenze Russlands mittlerweile in das weltweite Netz von US-Militärbasen einbezogen.

US-Militärbasen weltweit – auch an Russlands Grenzen

Bis zum Haushaltsjahr 2018 wurde jährlich vom Pentagon eine Liste der weltweit vorhandenen US-Militärbasen vorgelegt. (Dass diese Reports seitdem nicht mehr publiziert werden, hat einen einfachen Grund: Donald Trump). Gemäß der vorliegenden Chronologie dieser „Base Structure Reports“ ergibt sich eine zuletzt ausgewiesene Gesamtzahl von 514 unter der Rubrik „Overseas“, wozu jedoch die unter der Rubrik „US Territories“ aufgeführten 111 Militärbasen hinzugefügt werden müssen, da diese Gebiete sich quasi im halb-kolonialen Status befinden. Die Gesamtzahl der vom Pentagon definierten „Installations“ beinhaltet jedoch einige Mehrfachzählungen von Standorten aufgrund verschiedener Einzelfunktionen und Einrichtungen, die wohl nur für Militärs nachvollziehbar ist. Zudem sind einige Standorte aufgeführt, die man prinzipiell nicht als US-Militärbasen bezeichnen kann, aber eine wesentliche US-Präsenz aufweisen, wie z.B. der Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel.
Während die Auflistung für die wichtigsten Stationierungsländer Deutschland, Südkorea und Japan wahrscheinlich vollständig ist, fehlen manche Regionen weitestgehend. Dieses gilt vor allem für Osteuropa und Afrika. Die Gesamtzahl der US-Militärbasen außerhalb der USA weltweit kann man unter Bezug auf die Recherchen von David Vine aus den USA auf ca. 800 ansetzen. Wichtiger ist aber als Kenngröße, dass alle anderen Länder über weniger als 5% der Militärbasen auf fremden oder Übersee-Territorien verfügen, wobei die NATO-Länder Frankreich und Großbritannien wiederum den überwiegenden Anteil stellen.
Der investigative US-Journalist Nick Turse formulierte es in einem Beitrag für das Onlinemedium Counterpunch im Januar 2019 mit folgender Überschrift: „Bases, Bases, Everywhere … Except in the Pentagon‘s Report“.
Osteuropa taucht dort zuletzt nur auf mit dem Truppenübungsplatz Novo Selo in Bulgarien, sowie dem dreifach genannten Standort Mihail Kogalniceanu in Rumänien. Die einzige „richtige“ US-Militärbasis in Osteuropa fehlt hingegen: Camp Bondsteel im Kosovo.
Nick Turse berichtete bereits im Oktober 2017, dass US-Spezialeinheiten in dem Zeitraum ab 2015 in fast jedem osteuropäischen Land und südlich angrenzenden Ländern entlang den russischen Grenzen stationiert worden seien. Namentlich genannt werden dabei das Baltikum, Polen, Rumänien, die Ukraine und Georgien. Als Quelle diente dabei die offizielle Homepage des US Special Operations Command (US SOCOMM).
Eine Grauzone sind Labore für Biowaffen, in denen unter anderem künstlich geschaffene Viren getestet werden. Beispielsweise ist bereits seit einer Regierungsvereinbarung von 2002 in Georgien unweit der von den USA genutzten Vaziani Military Base das Lugar-Center als biologisches Hochsicherheitslabor in Betrieb, das in der Vergangenheit bereits mehrmals im Verdacht stand, an der Freisetzung von Erregern für Infektionskrankheiten beteiligt gewesen zu sein.

Pentagon-Kategorien für militärische Präsenz

Im Sprachgebrauch des Pentagons gibt es mehrere Begrifflichkeiten für die Arten von Militärbasen bzw. -standorten. Diese sind umschrieben mit „Main operating base (MOB)“, „Forward operating base (FOB)“, „Forward operating site (FOS)“ und „Cooperative security location (CSL)“.
Die in den letzten Jahren entstandenen oder im Aufbau befindlichen US-Militärbasen lassen sich gemäß dieser Systematik und den dazu verfügbaren Definitionen nur bedingt zuordnen.
Als Hauptstützpunkte in Europa (MOB) – auch für die Logistik nach Osteuropa – sind in jedem Fall die Ramstein Air Base sowie die Sigonella Air Base in Sizilien anzusehen.
Dem entsprechend wurden in Osteuropa einige Flugzeuglandeplätze für US-Transportzwecke (FOB) ausgebaut.
Zahlreiche Truppenübungsplätze in Osteuropa können mittlerweile der FOS-Kategorie zugehörig angesehen werden, die sich vor allem auf rotierende Truppenkontingente bezieht.
Mit den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland wurden 2019 zeitversetzt und unabhängig voneinander 5-Jahresverträge zum Ausbau von Standorten abgeschlossen.

Defender Europe: US- oder NATO-Großmanöver?

Die Etikettierung dieser Großmanöver ist interpretationsfähig. Festzuhalten ist im einzelnen für Defender Europe 2021:

Beteiligt sind ca. 28.000 Soldaten, zumeist aus den USA.
26 Nationen sind an den Übungen beteiligt, darunter auch die Ukraine und der Kosovo als Nicht-NATO-Länder.
31 Truppenübungsplätze in 12 Ländern werden belegt.
Defender 2021 ist nur der Sammelbegriff für eine Reihe von Einzelübungen, mit Namen wie „Immediate Response“, „Saber Guardian“ oder „Swift Response“.
Die logistische Unterstützung erfolgt über 16 Staaten, darunter 12 Staaten via Flughäfen und 5 Staaten via Seehäfen.

Die Kosten seitens der USA werden gemäß Haushaltsansatz des Pentagons mit ca. 400 Mio. US-Dollar veranschlagt. Die anderen Nationen sind mit vergleichsweise gering ausgewiesenen Kosten beteiligt.
Nicht in diesen Kosten enthalten ist aber der Ausbau von zahlreichen nationalen Militärbasen in Europa für Zwecke einer faktischen Dauerpräsenz des US-Militärs.
Dazu gehören nicht nur die Militärbasen in Osteuropa, sondern auch Standorte in Deutschland. Vor allem Ramstein dient als logistisches Zentrum für die umfangreichen Lufttransporte in den Mittleren Osten und nach Osteuropa. Hinzuzählen muss man dabei auch die Städte Kaiserslautern und Mannheim, wo umfangreiche Logistikflächen auf militärischen Liegenschaften blockiert sind. Diese sind zum Leidwesen der Kommunen nicht als dringend benötigte Konversionsflächen für innerstädtische Wohn- und Gewerbegebiete verfügbar.
Was gleichfalls in der Kostenbilanz fehlt, ist der Ausbau von Transportwegen. Dieses wiederum wird über ein bereits 2018 von der EU-Kommission konzipiertes Programm finanziert, mit dem ab 2021 pro Jahr 1,7 Mrd. Euro für „Militärische Mobilität“ vorgesehen sind. Damit soll das transeuropäische Verkehrsnetz für Militärtransporte ertüchtigt werden.

Fazit

Auch wenn die NATO-Russland-Grundakte von 1997 offiziell noch Bestand hat, wurde diese spätestens seit der Ukraine-Krise 2014 schrittweise ausgehöhlt. Seitens der NATO werden dabei vertragliche Grauzonen geschickt genutzt. Der Ausbau der militärischen Infrastruktur für NATO-Dauerpräsenz und -Großmanöver erfolgt nicht über NATO-Gremien bzw. Vereinbarungen mit den Mitgliedsländern in Osteuropa, sondern gestückelt in bilateralen Verträgen der USA mit den dortigen NATO-Ländern, sowie den Nicht-NATO-Ländern Ukraine und Georgien. Bezüglich der NATO-Russland-Grundakte vermeidet man damit einen offenen Vertragsbruch, ermöglicht aber unter US-Regie die seit 2020 jährlich vorgesehenen Großmanöver Defender Europe.
Die Kostenrechnung des Pentagons ist dabei vergleichbar mit der eines Autobesitzers, der für seinen Luxuswagen zwar die Benzin- und Werkstattkosten detailliert auflistet, jedoch die Hauptkosten unterschlägt, nämlich den (Wieder-)Beschaffungswert und die von seinem Gefährt verursachten, aber staatlich zu tragenden Infrastruktur- und Umweltkosten.